Autorin: Ingrid Zwerenz
Format: Taschenbuch
Seitenanzahl: 128
Verlag: Rütten & Loening-Verlag
Auflage: 1 (1968)
Sprache: Deutsch
ASIN: B003DK9TH4
Altersempfehlung: Ab 14 Jahre
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Aus dem Vorwort von Peter Fischer
Die Pflege der Kultur wird mit großem Eifer von Literaturmarkt und Bewußtseinsindustrie betrieben. Der Autor anonymer Briefe und Schriften braucht diesen Institutionen sein Scherflein nicht zu entrichten.
Er kann schreiben, was er will; er kann sich alles erlauben, kann sich jede Freiheit herausnehmen. Er kann nicht zur Verantwortung gezogen werden. Die Anonymität macht ihn unangreifbar und er erlaubt sich jeden Übergriff ...
Über die Autorin Ingrid Zwerenz
Ingrid Zwerenz wurde 1934 in Liegnitz/Niederschlesien geboren. Von 1953 bis 1958 studierte sie Philosophie und Germanistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig und der Freien Universität Berlin. Seit 1957 ist Ingrid Zweren mit dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz verheiratet, im selben Jahr wurde ihre Tochter Catharina geboren.
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"Als Ingrid Hoffmann und Gerhard Zwerenz (Jahrgang 1925) sich 1953 erstmals in Leipzig begegneten, hatten beide bereits einschneidende und prägende Wegstrecken ihres Lebens hinter sich. Ihre Jugend im NS-Staat war gezeichnet von ersten Erfahrungen mit dem Elend ideologischer Zurichtung und einem Krieg, dessen Vernichtungslogik ihn zum Deserteur werden ließ, und ihr die Zwangsumsiedlung von Schlesien nach Brandenburg bescherte.
Die Hoffnung in der noch jungen DDR auf einen Aufbruch in eine politisch freiere und sozial gerechtere Gesellschaft endete, um einer drohenden Inhaftierung Gerhard Zwerenz' als linker Oppositioneller zu entgehen, 1957 mit der Flucht in eine Bundesrepublik, deren restaurativer Geist mit dem Schüren neuer Kriegsbereitschaft und der strafrechtlichen Verfolgung von Kommunisten sein neues wie altes Unwesen trieb.
In dieser BRD entfalteten Ingrid und Gerhard Zwerenz publizistische und politische Aktivitäten, die im Niemandsland zwischen sozialistischem Anspruch und kapitalistischer Wirklichkeit eine unverwechselbare Signatur aus sprachlichem Esprit, entlarvender Analyse und unbestechlicher Kritik aufwiesen.
Maßgeblich geprägt durch das Credo des Philosophen Ernst Bloch, mit dem das Paar Zeit seines Lebens eng verbunden war, vom utopischen Charakter des Menschen, der noch nicht ist, sondern erst wird, kämpfte das Paar stets für die Emanzipation von sozialer Herrschaft und kriegerischer Gewalt ... "
Auszug aus einem Beitrag in "Der Schattenblick"
Im Treibsand politischer Wechselverhältnisse
Gespräch mit Ingrid Zwerenz am 13. und 14. August 2016 in Oberreifenberg im Taunus - Teil 1
Quergedacht und schwergemacht - Der aufrechte Geist ... Ingrid Zwerenz im Gespräch
"Anonym - Schmäh- und Drohbriefe an Prominente" (Leseproben):
ÜBER DAS SAMMELN ANONYMER BRIEFE
Anonyme Briefe assoziieren Abwertendes, von Abstrusitäten über Abnormitäten bis zum Abfall, und es ist schon ein merkwürdiges Unterfangen, unter diesen Vorzeichen etwa zweihundert Prominente, Philosophen, Literaten, Publizisten und Kabarettisten um den Inhalt ihrer Papierkörbe anzugehen. Denn dort enden die meisten anonymen Zuschriften, gelesen oder ungelesen, je nach Temperament des Empfängers.
Hat er sie doch einmal gelesen, so scheint es selbstverständlich, daß er sich schleunigst davon befreit; das sei eine »Therapie, denn damit verringerte sich schon etwas der Ärger«, wie Ernst Kreuder schreibt.
Ähnlich antwortet Gerhard Szczesny, und auch Walter Hollerer läßt verlauten: »Den Plan finde ich ausgezeichnet, ich würde Ihnen gern einige besonders glänzende Kleinode der Art beisteuern - hätte ich sie nicht alle weggeschmissen (der Papierkorb ist ein mir sehr nahestehendes Möbel)!«
Genauso verfahren, um einige der Befragten zu nennen, Reinhart Baumgart, Heinrich Böll, Werner Friedmann, Günter Grass, Willi Heinrich, Werner Höfer, Golo Mann, Martin Walser.
Demnach gibt es ein Gesetz mitteleuropäischen Wohlverhaltens: Anonyme Briefe schreibt und liest man nicht. Indes bestätigt der vorliegende Facsimile-Band diese Regel durch Ausnahmen, die bei Privatpersonen seltener als bei Instffutionen anzutreffen sind.
Es könnte sein, daß die Vorschrift des Handelsgesetzbuches, Schriftwechsel zehn Jahre lang aufzuheben, das Sammeln anonymer Briefe fördert. Wie demauch sei, wir haben besonders bei Zeitungen und Zeitschriften Material gefunden, und wir danken dem SPIEGEL, dem STERN, der ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG DER JUDEN IN DEUTSCHLAND, der ZEIT, KONKRET und dem KÖLNER STADTANZEIGER für ihre Hilfe ...
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BEISPIELE FÜR ANONYME SCHREIBEN AUS DEM BUCH:
Sehr geehrter Herr Professor,
Ihren offenen Brief habe ich mit Interesse gelesen.und begrüsse die Gelegenheit, Ihre offensichtlich immer noch euphemistischen Ideen über den Antisemitismis in Deutschland zu korrigieren.
Deutschland ist nicht antisemitisch infisziert, Deutschland ist von eh und je antisemitisch, nur darf man es z.t. nicht öffentlich sagen.
Die Juden wurden wiederholt im Laufe der Jahrhunderte aus Deutschland vertrieben, aber sie kamen immer wieder. Ein Mensch mit Charakter geht normalerweise nie wieder, dort hin, wo man ihn einmal hinausgeworfen hat.
Diese Überlegungen sind offenbar dem jüdischen Mentalität fremd, so fremd uns das ganze Judentum ist. Auch Sie sind wiedergekommen. Sie wollen kein Geld, weil Sie schon genügend aus der unerschöpflichen Quelle der Wiedergutmachung bekommen haben. Damit erübrigt sich eine “Position".
Warum kommen die Juden nach Deutschland? Nicht, weil es ihre Heimat ist, denn das wäre Israel oder Galizien. Sie kommen, weil es in Deutschland etwas zu holen gibt, verbunden mit einem landschaftlich und kulturell reizvollen Land.
In vielen anderen Ländern ist das Leben weniger angenehm und man geht dorthin, weil es eben sein muss. Deutschland zöge man vor.
Wir haben die Juden nicht gerufen, ebensowenig wie Neger, Chinesen oder andere von uns verschiedene Rassen. Es bleibt immer dieselbe Frage offen, warum kommen sie denn eigentlich?
Wenn ich heute nach Afrika ginge, würde mich kein Mensch für einen afrikanischen Neger halten. Einen Juden sollen wir aber als Deutschen betrachten.
Bei der Anzahl Ihrer akademischen Grade sollte Ihnen doch diese unmögliche Logik auch auffallen ...
[Auszug aus einem anonymen Schreiben an den Philosophen und Schriftsteller Ludwig Marcuse].
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ABBILDUNGEN VON ANONYMEN BRIEFEN AUS DEM BUCH:
Anm.: Für eine vergrößerte Ansicht Bilder anklicken!
Buchempfehlung:
Anonym verfasste Hass-, Schmäh- und Drohschreiben sind keineswegs nur Phänomene des Internetzeitalters. Dieses Buch aus dem Jahr 1968, das mir Waltraud Seidel und die Autorin Ingrid Zwerenz dankenswerter Weise zukommen ließen, ist ein einmaliges Dokument dafür, dass auch in den Nachkriegsjahren unter Verwendung von Schreibmaschinen, Handschriften und Briefkuverts Gehässigkeiten an Einzelpersonen und Verlage versendet wurden.
Was sich seit der Verbreitung von Internet und digitaler Kommunikation geändert hat, sind lediglich die Häufigkeit und Intensität der verbalen Belästigungen sowie der Gegenstand des Hasses.
In den 60er Jahren richtete sich die Wut vor allem gegen Juden, Philosophen, Literaten, Publizisten und Kabarettisten. Heute sind auch noch Muslime sowie Personen, die sich durch eine humanistische und positive Haltung gegenüber Migrant/innen auszeichnen, zur Zielscheibe von Hass- und Schmähattacken geworden.
Zu allen Zeiten wurden gehässige Schreiben, die unter dem Schutzschirm der Anonymität verfasst wurden, von den Adressaten vernichtet, und gelangten nur in seltenen Fällen an die Öffentlichkeit. Ingrid Zwerenz gelang es, Zeitschriftenverlage und prominente Rezipienten von Schmähbriefen zur Veröffentlichung zu bewegen. Ihrer Initiative verdanken wir diese Sammlung an Schreiben, die ein Licht auf die finstern Seiten von "Wutbürgern" aus der Wiederaufbau- und Wirtschaftswundergeneration nach dem Ende von Faschismus und Krieg werfen.
Für mich ist dieses einzigartige Buch ein ganz wesentliches und seltenes Zeugnis der jüngeren Geschichte mit einem hohen Maß an Aktualitätsbezug. Eine Neuauflage wäre daher absolut wünschenswert. Derzeit ist es allerdings noch im Antiquariat erhältlich.
Martin Urbanek
